Der 36. Internationale Hegel-Kongress will ein Forum für einen globalen Blick auf die Aktualität und auf die Wirkung der Hegelschen Philosophie und ihre weltweite Rezeption sein. Schließlich ist es in der Hegelschen Philosophie selbst begründet, nach dem Ganzen zu streben und das Trennende zu beseitigen. Ein Ziel des Kongresses ist daher der Versuch, Partikularismen zu überwinden. Dies befasst zwei Dimensionen in sich. – Zum einen dieser globale Blick in geographischer Perspektive (Teil 1). Erst wenn man die Besonderheiten der Rezeption der Hegelschen Philosophie in Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Australien und Europa erfasst hat, wird es möglich sein, die immer wiederkehrenden Fixpunkte des Welt-Hegelianismus sowie seine verschiedenen Deklinationen zu identifizieren und so eine, wenn auch immer vorläufige, Einschätzung über das Glück und Unglück des Hegelschen Denkens in der Welt zu geben. Zugleich wird es wertvoll sein, das Bild, das Hegel in seinen Werken und Vorlesungen von Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Australien und Europa hatte, zu betrachten, um seine Vorurteile oder auch fruchtbaren Intuitionen zu bewerten.
Um aber zu einer „globalen“ Vision der Aktualität der Hegelschen Philosophie und ihrer Rezeption zu gelangen, wird es nicht minder angegangen werden müssen, Partikularismen auch in inhaltlicher Hinsicht zu überwinden (Teil 2). Die anspruchsvollste Herausforderung des Kongresses wird daher darin bestehen, „nach dem zu suchen, wo und wie – noch oft unbemerkt – hegelianische Resonanzen in einigen Bereichen entstanden sind oder entstehen könnten, die dem Idealismus scheinbar fremd und unvereinbar sind: von der Debatte über Menschenrechte bis zu sozialen Bewegungen, von der ökologischen Bewegung bis zur Weltwirtschaft, von der Philosophie der Technik bis zum Posthumanismus und der Popkultur. Der Kongress will die Schranken des Hegelschen Idealismus ausdehnen und mit seiner Systematik soziale Probleme, Genderfragen, Umweltkrisen und künstlerische Kreationen in den Blick bringen. Zeitgenössische Debatten können Begriffe, Paradigmen und Figuren aus dem Hegelschen Idealismus entlehnen, um sie in innovative und originelle, neue Konfigurationen zu überführen, die in der Lage sind, brisante Themen in einem ungewöhnlichen Rahmen zu behandeln. In den letzten Jahrzehnten hat es viele solche „Übertragungen“ von Hegels Idealismus in unterschiedliche und ungewöhnliche Kontexte gegeben. So hat beispielsweise der Feminismus, der sich in den 1970er Jahren durch seine heftigen Angriffe auf die Hegelsche Philosophie als patriarchalische Philosophie hervorgetan hat, bei mehreren Gelegenheiten die Fruchtbarkeit der Auseinandersetzung mit einigen paradigmatischen Begriffen der Hegelschen Philosophie – wie Selbstbewusstsein, Anerkennung und Dialektik – erkannt, um das emanzipatorische Denken zu stärken und neue, bislang in der feministischen Agenda unerforschte Narrationen zu entwickeln. Zudem gäbe es ohne Hegel die Politik der Anerkennung, wie wir sie heute kennen, nicht. In ähnlicher Weise ist Hegels Idealismus ins Spiel gebracht worden, um zeitgenössische Umweltprobleme zu thematisieren und die Verbindungen zwischen Idealismus, Naturphilosophie und Umweltethik aufzuzeigen. Diese globale Dimension kann auch zum Nachdenken über Hegels Konzeption der Religionen im Horizont eines wachsenden spekulativen Begreifens dieser Religionen anregen. Sogar die Kunstwelt, in all ihren Ausdrucksformen, hat sich auf die Hegelsche Philosophie gestützt und tut dies auch weiterhin, und zwar nicht nur in den traditionellen Kontexten, sondern auch in der Pop-Kultur, ferner in Videospielen und bis hin zu Filmen. In der Tat gibt es mehrere Popkulturprodukte, die, wenn auch auf einem niedrigeren Komplexitätsniveau, mit Hegelschen Begriffen und Perspektiven in Resonanz stehen.
In diesem Zusammenhang soll der Kongress eine breitere Reflexion über neue alternative Narrative des Deutschen Idealismus fördern, die sich auf Inklusion, Koexistenz und interkulturellen Dialog richten.
Nicht zuletzt zeigt auch das Schicksal unserer Quellen zu Hegels Denken den globalen Horizont. So werden etwa die jüngst im Jahr 2022 wiederentdeckten Quellen zur Heidelberger Zeit eine Lücke füllen und einen immer umfassenderen Blick auf die Hegelsche Philosophie ermöglichen. Die neuen Quellen sowie die Geschichte der Hegelschen Manuskripte, das Wissen um das Wirken der Schüler bezeugen die globale Bedeutung und Verbreitung der Hegelschen Philosophie, da mehrere Manuskripte in verschiedenen europäischen Ländern gefunden wurden.
Der 36. Internationale Hegel-Kongress wird in Rom stattfinden, der Hauptstadt Italiens, in einem der wenigen Länder, in denen die Hegelsche Philosophie seit dem 19. Jahrhundert in großer Kontinuität starke Resonanz gefunden hat und das zu einer Art „Wahlheimat“ des Hegelschen Idealismus wurde. Nicht nur erlebte die Hegelsche Philosophie hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zweite Blüte, während in Deutschland das Vertrauen in das System allmählich schwand, sondern Italien war auch eine „glückliche Oase“ für den Idealismus im 20. und 21. Jahrhundert. Die lange Wirkungsgeschichte der Hegelschen Philosophie in Italien ist zweifellos außergewöhnlich, worin die Anziehungskraft, die die Hegelsche Philosophie auf die italienischen Intellektuellen ausübt, fast ungebrochen ist. – Es war und ist denn kein Zufall, dass sich in Neapel in den 1840er Jahren dank Bertrando Spaventa und Francesco De Sanctis eines der wichtigsten Zentren des europäischen Hegelianismus entwickelte. Hegels Freiheits- und Fortschrittstheorien fassten inmitten des Risorgimento Fuß und weckten Hoffnungen auf eine künftige politische und kulturelle Emanzipation des Landes. Hegels Philosophie wurde zu einer kraftvollen Botschaft der Hoffnung, zu einem Rettungsanker der Vorsehung, zu einem säkularen „Kult“ oder einer „idealen Religion“ (wie Spaventa sagte) – ein Denken, das das politische Handeln der italienischen Intellektuellen leiten solle. Vor diesem konkreten geistig-politischen Hintergrund fand dann auch die intensive Auseinandersetzung von Benedetto Croce und Giovanni Gentile mit Hegel statt – nicht ohne Umdeutungen, Reformen und Verrat –, und welches später in den 1960er Jahren, als das Interesse an Hegel im Lichte des dialektischen und historischen Materialismus und der Hermeneutik zunahm, in eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung und Aneignung der Philosophie Hegels durch eine Reihe scharfsinniger italienischer Interpreten mündete: von Galvano della Volpe bis Ugo Spirito, von Guido Calogero bis Eugenio Garin, von Leo Lugarini bis Nicolao Merker, von Lucio Colletti bis Francesco Valentini, von Valerio Verra bis Remo Bodei, von Franco Chiereghin bis Claudio Cesa, von Gianni Vattimo bis Giorgio Agamben.
Neben den umrissenen allgemeinen Themen will der Kongress so auch die spezifische, reiche Tradition der italienischen Rezeption der Hegelschen Philosophie thematisieren, die diesen Persönlichkeiten zu verdanken ist. Diesem Thema wird eine eigene Sektion gewidmet sein, die im Gedenken an Francesco Valentini (1924-2009) und Valerio Verra (1928-2001) stattfindet, zwei der führenden Hegel-Forscher in Italien, die an den Universitäten Rom La Sapienza und Roma Tre tätig waren und Generationen von italienischen Hegel-Forscher*innen ausgebildet haben. Eine Diskussion über Themen, Forschungsperspektiven und neue Übersetzungen durch junge Wissenschaftler*innen, die sich mit der Rezeption der Hegelschen Philosophie in Italien befassen, wird ebenfalls im Rahmen des Kongresses stattfinden.
Die offiziellen Sprachen des Kongresses sind Englisch, Deutsch und Französisch.